In die Sonne schauen

Gestern habe ich wieder einmal einen Artikel gelesen, in dem die Autorin darüber berichtet, wie sie seit dem Covid-19-Lockdown das Weinen für sich entdeckt hat. Über zwei Seiten erzählt sie davon wie wunderbar es sich anfühlt, der Welt eine klare Botschaft zu senden: „Ich brauche dich“. Denn Tränen, so führt sie weiter aus, senden eine unmissverständliche Aufforderung an unsere Mitmenschen, sie bringen uns näher an unsere Bedürfnisse und fühlen sich außerdem noch ein wenig nach Meditation an. Ein wahrlich wunderbares Mittel der Kommunikation, das nebenbei auch noch Spaß macht, so ist sie sich sicher.

Ein wenig verwundert habe ich versucht, das Gelesene einzuordnen. Überhaupt habe ich in den letzten Wochen sehr viele Artikel gelesen, über die ich mich gewundert habe. Trauer, Angst, Verzweiflung, Wut, Verlust – das alles sind Gefühle, die mir immer wieder über den Weg laufen. In Geschichten, in denen Menschen davon erzählen, wie schwer es gerade ist nicht das zu tun, was man immer getan hat. Auf einmal scheinen alle zu verstehen wie es ist, wenn einem etwas schlagartig weggenommen wird. Warum aber sprechen plötzlich alle von Verlust? Und seit wann ist es so ok traurig zu sein? Während ich mir diese Fragen stelle, schreie ich innerlich: Ihr habt doch alle keine Ahnung!

Das ist anmaßend, ich weiß. Die Pandemie, durch die wir weltweit gerade navigieren, ist echt und für sehr viele eine wirkliche Herausforderung. Das steht außer Frage. Und trotzdem finde ich es verblüfend zu sehen, wie all die großen Gefühle gerade in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Ist der Verlust von Privilegien wirklich das Schlimmste, was passieren kann? Oder brechen die Emotionen gerade deshalb flächendeckend herein, weil der Tod so nahe ist? Liegt es womöglich daran, dass die Menschen spüren, dass das Ende an jeder Ecke lauern könnte? Für sich selbst oder – noch schlimmer – jene, die ihnen nahestehen? Wie so oft wünschte ich es gäbe etwas, womit sich meine innere Stimme ein wenig beruhigen ließe. Vielleicht überfordern mich die vielen Berichte, in denen Menschen von Trauer und Verlust sprechen auch deshalb, weil ich mir seit dem Tod meines Bruders wünsche, ich müsste nicht dafür kämpfen meinen Tränen Platz einzuräumen. Müsste mich nicht rechtfertigen dafür, dass der Schmerz zu mir gehört. Bleib doch einfach noch ein bisschen länger zuhause, möchte ich den Menschen sagen, irgendwann wirst du dich schon daran gewöhnen. In der leisen Hoffnung sie könnten verstehen, wie absurd ihre eigenen Ratschläge oft für mich klingen.

Eine weltweite Krise führt uns gerade vor Augen, wie endlich unser Dasein ist und wie wenig Einfluss wir darauf haben, was in unserem Leben passiert. „Es ist nicht leicht, jeden Augenblick in vollem Bewusstsein des Todes zu leben. Das ist so, als versuche man, der Sonne ins Gesicht zu schauen“, schreibt der Psychoanalytiker Irvin D. Yalom in seinem Buch In die Sonne schauen. Leider weiß ich, dass das stimmt.

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