Wer bin ich, wenn ich niemand sein muss?

Diese Frage lässt sich für mich nicht so leicht beantworten. Eigentlich so wünsche ich mir schon seit ich denken kann, mich nicht in irgendeine Nische drängen zu lassen. Die Ecken gekonnt zu umgehen und mir immer Raum in meinem Raum zu geben. Rund zu bleiben und bei mir. Ja, in der Theorie ist das alles ganz nett. Die Wahrheit sieht ein klein wenig anders aus. Vermutlich habe auch ich mich immer wieder in die Enge treiben lassen. Nicht zuletzt von mir selber. Das zu erkennen, ist schon ein ziemlicher Brocken. Dass es eben auch an mir liegt, dass manche Dinge so sind, wie sie nun mal sind.

Ich glaube, ich weiß das schon ein wenig länger. Der Prozess – weg von Dingen, die einmal sehr viel Platz in meinem Leben eingenommen haben und hin zu anderen, die mehr Sinn machten – war kein plötzlicher. Es geschah langsam, fast schleichend. Dann kam der Unfalltod meines Bruders und zerstörte einfach alles. An Veränderung, an Werte und Sinn, an Ecken, in denen ich nicht stehen wollte, an all diese Dinge war nicht mehr zu denken. Dabei handelte es sich aber keineswegs um eine bewusste Entscheidung. Vielmehr war mir wohl unbewusst klar, dass ich für solche Kleinigkeiten keine Energiereserven hatte.

Es war mir egal, wer was von mir dachte. Es war mir nicht egal, dass ich so alleine war. Mein ganzes bisheriges Leben hatte ich versucht herauszufinden, wer ich war und wer ich nicht sein wollte. Hatte alles Mögliche unternommen, um die zu sein, von der ich glaubte, dass ich sie mochte. Und wohl auch, dass die anderen sie mochten. Der Tod hat mich geschält wie eine Zwiebel, hat mich in einen Zustand so tiefer Trauer versetzt, dass ich mich auf nichts anderes konzentrieren konnte, als auf den Kern. Alle Schichten, die in den Jahren zuvor mühevoll geformt, platziert und wieder entfernt worden waren, schienen verschwunden zu sein. Übrig blieb nur die Person, die ich wohl bin. Nicht die, die ich sein könnte. Oder sollte. Oder auch sein möchte. Sondern einfach nur BIN. Ich bin, wer ich bin. Und ich weiß nicht, wie das geht.

Die Menschen um mich herum scheinen die Frau, die ich bin, nicht sonderlich zu mögen. Zumindest hat es oft den Anschein, wenn ich alleine vor dem Haus sitze, mit einem Glas Wein einen langen und anstrengenden Tag enden lasse und mich dabei ein wenig selbst bemitleide. Wie viel davon meine Schuld ist, das weiß ich nicht. Vielleicht habe ich von den Menschen um mich herum zu viel erwartet, vielleicht habe ich auf falsche Karten gesetzt, vielleicht ist es an der Zeit ein neues Netzwerk aufzubauen. Ja, vielleicht. Vielleicht ist es aber auch einfach nur so, dass ich lernen sollte, diese Frau besser kennenzulernen. Zu lernen, wer ich bin, wenn ich niemand sein muss. Und diesen Zustand als Herausforderung zu neuem Glück zu sehen und weniger als etwas, das mir weggenommen wurde.

In der Tat kann es nämlich auch sehr heilsam sein, mit sich alleine zu sein. Oft und lange Zeit nur mit sich selbst. Mit mir, dem einzigen Menschen, der in meinem Leben für Beständigkeit sorgt. Mein Leben steht und fällt mit mir. Damit muss ich mich wohl abfinden. Ich bin. Nicht mehr und auch nicht weniger. Und das ist, so glaube ich, ganz gut so.

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